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FIS-Regel 4: Von der Realität überholt ? (2)

von thalmann@m-win.ch, Tel. +41 (52) 269 21 11

Im ersten Teil unseres Blogbeitrages wurde ein Überblick über die Rechtslage und mögliche Konsequenzen fehlbaren Verhaltens gegeben. In diesem zweiten Teil der Reihe «Kollision auf der Skipiste, Verstoss gegen FIS-Regeln» gehen wir auf die Anwendungsfälle der FIS-Regel 4 ein und die bisherige Rechtsprechung zum Thema.

Anwendungsfälle FIS-Regel 4

Die FIS-Regel 4 gestattet es Skifahrern und Snowboardern nach Belieben zu überholen unter der Bedingung, dass beim Überholmanöver genügend Abstand eingehalten wird. Ob von oben, unten, rechts oder links überholt wird, spielt dabei keine Rolle. Doch was bedeutet dies genau?

  • Es bedeutet, dass «der hintere Skifahrer dem vorderen mit Blick auf die Pflicht zur Einhaltung eines genügenden Sicherheitsabstands beim Überholen nicht die Fahrtrichtung abschneiden darf»[1]. Befinden sich die Unfallbeteiligten allerdings auf gleicher Höhe und einer der Beiden macht in dieser Situation «abrupt und völlig unerwartet» einen Schwung in Richtung des Fahrbannbereiches der zweiten Person, für welche aus der Sicht der zweiten Person vorgängig keine Anzeichen bestanden, sieht es allerdings anders aus.[2] Kollisionen, die sich ereignen, weil sich zwei Skifahrer auf der gleichen Höhe befinden und frontal miteinander kollidieren, da sie sich zu spät sehen, kann daher nicht unter die FIS-Verhaltensregel 4 subsumiert werden.[3]
  • Es bedeutet, dass der überholende Schneesportler seine Fahrspur so wählen muss, «dass ein Vorbeifahren an dem vor ihm beziehungsweise geländemässig weiter unten fahrenden Skifahrer oder Snowboarder gefahrlos möglich ist»[4].
  • Es bedeutet, dass der vorausfahrende Skifahrer uneingeschränkt Vorrang hat, was alle Bewegungen wie geradeaus fahren, stemmen, in weiten Bögen abschwingen, rutschen und sogar überraschende Stürze umfasst.[5] Einzige Ausnahme stellt die FIS-Verhaltensregel 3 dar, wonach der hintere Skifahrer nicht damit rechnen muss, dass der zu überholende Skifahrer plötzlich hangaufwärts kommt.

Rechtsprechung

Jährlich verletzen sich rund 62’000 in der Schweiz wohnhafte Skifahrer/innen und Snowboarder/innen, wobei es sich bei rund 90% der Unfälle um Selbstunfälle handelt.[6] Unfälle aufgrund von Kollisionen machten bei Skifahrern in den Jahren 2019/2020 ganze 7%, bei Snowboardern 4% aus.[7] Trotz dieser unseres Erachtens immer noch beträchtlichen Höhe an nicht Selbstunfällen, findet man nur wenig Rechtsprechung dazu.

Strafrechtliche Sicht

Grund für die rare Rechtsprechung könnte wohl sein, dass es sich bei der fahrlässigen Körperverletzung gem. Art. 125 Abs. 1 StGB um ein Antragsdelikt handelt und nur schwere Schädigungen gem. Abs. 2 von Amtes wegen verfolgt werden. Nach näherer Betrachtung der Urteile könnte ein weiterer Grund sein, dass die Kläger keine genügende Genugtuung aus einem solchen Strafverfahren erfahren. Vielfach werden die Verfahren nämlich aufgrund ungenügender Beweise eingestellt[8] oder ziehen sich in die Länge, weil sie nach einer Neubeurteilung des Sachverhaltes an die Vorinstanz rücküberwiesen werden[9].

Dies ergibt sich bezogen auf Urteile, in welchen die FIS-Regel Nummer 4 explizit erwähnt und behandelt wird, daraus, dass oftmals streitig ist«(…) in welcher Position zueinander die beiden Skifahrer den Unfallhang befahren haben, das heisst, ob sie vor dem Zusammenprall auf gleicher Höhe oder versetzt unterwegs waren und für den letzteren Fall, wer von den beiden Unfallbeteiligten zuerst in den Hang hinein gefahren ist und wer damit aus der Sicht vom geländemässig weiter unten fahrenden Kollisionsgegner von hinten gekommen ist»[10]. Die Schwierigkeit dies zu eruieren, liegt darin, dass die Aussagen des Klägers und des Beklagten meist auseinanderfallen, keine Zeugen vorhanden sind, die den ganzen Unfallhergang beobachtet haben oder keine polizeiliche Unfallskizze vorliegt. Zum Teil kann ein Gutachten Abhilfe schaffen, was allerdings höhere Kosten verursacht und nur selten weiterhilft.

Kommt es schliesslich zu einer Verurteilung wegen einer einfachen oder schweren fahrlässigen Körperverletzung aufgrund einer Kollision, kommt der Beklagte aber meist mit einer Busse von maximal CHF 1’000.-[11] davon. Nur ein einziges Mal wurde eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je CHF 100.- ausgesprochen, wobei der Vollzug der Geldstrafe aufgeschoben wurde.[12] Im Urteil des Bundesgerichtes vom 19. August 2010 (6B_578/2010) wurde sogar von einer weiteren Strafverfolgung, trotz einer vorliegenden fahrlässigen schweren Körperverletzung gemäss Art. 125 Abs. 2 StGB, abgesehen, da der Beklagte aufgrund seiner eigenen Verletzungen «gemessen an seinem Verschulden derart schwer betroffen» sei, dass eine solche unangemessen wäre.

Zivilrechtliche Sicht

Das Bundesgericht hat in seiner konstanten Rechtsprechung mehrmals klargestellt, dass FIS-Regeln zwar keine Rechtsnormen darstellen, jedoch als Massstab für die im Skisport üblicherweise zu beachtender Sorgfalt gelten[13]. Aus zivilrechtlicher Sicht wird den hinten fahrenden Skifahrern durch die Anwendung der FIS-Regel 4 dahingehend eine Sorgfaltspflicht auferlegt, indem sie genügend Rücksicht zu nehmen bzw. für all seine Bewegungen genügend Raum zu lassen haben. Wird diese Sorgfaltspflicht verletzt, können daraus Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche abgeleitet werden.

Damit nicht zwei Verfahren geführt werden müssen, können im schweizerischen Strafprozess adhäsionsweise auch zivilrechtliche Forderungen geltend gemacht werden. Wie bereits erwähnt, lassen sich zum Thema aber nicht viele Urteile finden, weshalb es auch zum Schadenersatz bei einer Kollision aufgrund einer Verletzung der FIS-Regel 4 fast keine Rechtsprechung gibt. Ausserdem müssen in diesem Zusammenhang erst weitere, von der Literatur aufgeworfene, Fragen beantwortet werden, und zwar

– ob die Sorgfaltspflicht des von hinten fahrendem Skifahrer uneingeschränkt gilt, oder ob für den vorderen Skifahrer ebenso eine gewisse Mass an Sorgfalt gilt

– und ob das im Strassenverkehr geltende Vertrauensprinzip nach Art. 26 SVG auf der Piste analog angewendet werden kann.

Das Vertrauensprinzip nach Art. 26 SVG findet Ausdruck in der FIS-Regel Nr. 1, welche besagt, dass jeder Skifahrer und Snowboarder sich so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet oder schädigt. In BGE 106 IV 350 schliesst das Bundesgericht neben der Heranziehung der FIS-Regeln eine analoge Anwendung des SVG nicht aus, leitet die FIS-Regel Nr. 1 aber auch nicht daraus ab.[14] Kraemer vergleicht das Normgehalt der FIS-Regeln mit den Bestimmungen des SVG und stellt fest, dass es identisch sei.[15] Er bezieht sich gleichzeitig auf einen Entscheid der zweiten Zivilkammer des Kantonsgerichts St. Gallen vom 5. Juli 1989, wonach die Grundregel von Art. 26 Abs. 1 SVG auf Begegnungssituationen zugeschnitten sei und in ihr ein leitender Gedanke ausgedrückt werde, der jegliche Art des Massenverkehrs beherrschen müsse, also selbstverständlich auch auf Skipisten gelte. Diesen Ausführungen folgend könne man festhalten, dass Art. 26 SVG auf Skipisten nicht nur analog zur Anwendung gelangt, sondern unmittelbar anwendbar ist.[16]

Folgt man dieser Aussage, sollte bei der zivilrechtlichen Beurteilung eines Kollisionsunfalls eine Sorgfaltspflichtverletzung sowohl des von hinten als auch des von vorne fahrenden Skifahrers im Hinblick auf das Vertrauensprinzip geprüft werden. In diesem Fall muss allerdings beachtet werden, dass die FIS-Regel 4 ihre Wirkung verliert und als nichts aussagend angesehen werden kann. Natürlich sollten Skifahrer und Snowboarder sich so verhalten, dass niemand zu Schaden kommt. Allerdings ist die FIS-Regel 4 unseres Erachtens durchaus sinnvoll, da man durch den Schulterblick nach hinten für einen Moment nicht sehen kann, was sich vor einem auf der Piste abspielt und es auch dadurch zu einer Kollision kommen kann. Ein Blick zurück, bevor man nach einem Stopp am Pistenrand losfährt, ist aus unserer Sicht allerdings ein Muss.

Sollten Sie Fragen haben oder Unterstützung benötigen, können Sie sich gerne an uns wenden.

Interessiert mich (Email an sekretariat@m-win.ch; wir melden uns)

Anmerkung: Dieser Beitrag wurde von der unabhängigen Anwaltskanzlei «Martin Rechtsanwälte GmbH» auf unserem Blog publiziert. [NH1] 


[1] Urteil des KGer GR vom vom 14.09.2005, E. 4 a).

[2] Ibid.

[3] Vgl. Urteil des OGer BE vom 24.07.2020, E. 3 und Entscheid der Obergerichtskomission vom 21.12.2007, E. 6 a).

[4] Urteil des KGer GR vom 27.07.2005, E. 5 b), vom 14.09.2005, E. 4 und vom 30.08.2021, E. 6.3.

[5] Urteil des KGer GR vom 14.09.2005 E. 4 a); vgl. auch Urteil des KGer GR vom 27.07.2005, E. 5 b).

[6] https://www.bfu.ch/de/dossiers/schneesport-auf-der-piste.

[7] bfu_2.389.01_verletztentransporte im schneesport 2019-2020.pdf.

[8] Vgl. z.B. Urteil des KGer GR vom 27.04.2005 (BK 05 36) und vom 17.10.2012 (SK 12 21); OGer BE vom 24.07.2020 (BK 20 183).

[9] Vgl. z.B. Urteil des KGer GR vom 27.07.2005 (SB 05 15/16) und vom 14.09.2005 (BK 05 50).

[10] Urteil des KGer GR vom 27.07.2005, E. 4.

[11] Vgl. Urteil des BGer vom 03.03.2004 (1P.494/2003) – Busse von CHF 1’000; Urteil des KGer GR vom 03.12.2008 (SB 08 29) – Busse von CHF 800.-.

[12] Vgl. Urteil des KGer SG vom 29.01.2009 (CB 08 23).

[13] S. BGE  106 IV 350, E. 3a; BGE 122 IV 17, E. 2b/bb, 118 IV 130, E. 3a; 117 IV 415, E. 5b.

[14] S. Kraemer, Rz 313-314.

[15] S. Kraemer, Rz. 321.

[16] S. Kraemer, Rz. 324.


 

 [NH1]Bei MRAG-Beiträgen auf MSM-Blog.

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