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Gemäss einer unglaublich formaljuristischen, realitätsfremden Praxis des Bundesgerichts hat die AG keinen Verwaltungsrat mehr, wenn er für eine Amtsdauer bis zur nächsten GV gewählt wurde und diese GV nicht innert 6 Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres stattfindet. Konsequenzen und Rechtsunsicherheit sind schwerwiegend.
Die ordentliche GV findet jährlich innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres statt, Art. 699 Abs. 2 OR. Die Amtsdauer der Mitglieder des Verwaltungsrats von Gesellschaften, deren Aktien nicht an einer Börse kotiert sind, beträgt drei Jahre, sofern die Statuten nichts anderes bestimmen; die Amtsdauer darf jedoch sechs Jahre nicht übersteigen, Art. 710 Abs. 2 S. 1 OR.
Bundesgerichtsentscheid BGE 148 III 69
Das Bundesgericht hat in BGE 148 III 69 entschieden, dass das Amt des Verwaltungsrats mit Ablauf des sechsten Monats nach Schluss des betreffenden Geschäftsjahres endet, wenn keine GV nach Art. 699 Abs. 2 OR durchgeführt oder die Wahl des Verwaltungsrates nicht traktandiert wurde. Eine «stillschweigende Verlängerung» finde nicht statt.
Dass viele Gesellschaften damit handlungsunfähig wurden und werden, scheint dem BGer nicht relevant. Ebensowenig die grosse Rechtsunsicherheit wegen einem Rattenschwanz «nichtiger» Handlungen in der Zeit bis zur Neuwahl. Andererseits sind die Folgen aber nicht durchgängig konsequent, zum Beispiel:
- Guter Glauber Dritter in den Handelsregistereintrag: Dieser sei nicht gefährdet, Dritte dürften grundsätzlich auf den Handelsregistereintrag vertrauen, soweit ihnen nicht positiv bekannt ist, dass die Amtszeit der eingetragenen Mitglieder geendet habe (Art. 936b Abs. 3 OR).
- Verantwortlichkeit nach Art. 754 OR: Die Gesellschaft, Aktionäre und Gesellschaftsgläubiger blieben geschützt, weil die Verantwortlichkeit nach Art. 754 OR auch für als faktische Organe handelnde Verwaltungsräte fortbestehe.
In seinem neueren Entscheid BGer 4A_387/2023, 4A_429/2023 hat das Bundesgericht den Entscheid BGE 148 III 69 bestätigt und zugleich noch verschlimmert, indem es festhielt, dass ein Verwaltungsrat, der mangels rechtzeitiger Wiederwahl keiner mehr ist, als faktisches Organ keine GV einberufen kann und die Beschlüsse einer entsprechenden GV nichtig sind.
In einem früheren Entscheid BGer 6B_697/2014 hatte das Bundesgericht noch in E.2.3 die Ansicht vertreten: «Da dem Beschwerdeführer die Stellung eines faktischen Verwaltungsrates zukam, nimmt die Vorinstanz zu Recht an, dass er zur Einberufung der GV verpflichtet war (Art. 717 Abs. 1 OR).»
Soweit eine kurze, stark vereinfachte Zusammenfassung. Wir haben dazu eine ausführlichere Darstellung verfasst, die Sie gern bei uns beziehen können. Auch stehen wir zur Verfügung, um Situationen zu analysieren und bereinigen, in die Ihre Gesellschaft gekommen ist oder kommen könnte wegen dieser u.E. höchst unsachgemässen Rechtsprechung. Einfache «Patentrezepte» gibt es leider v.a. im Nachhinein kaum: In den meisten Fällen führt nur die umfassende Begutachtung der Situation zu einer praxistauglichen Lösung mit möglichst reduzierten Rechtsrisiken.
Interessiert mich (Email an sekretariat@m-win.ch; wir melden uns)
Anmerkung: Dieser Beitrag wurde von der unabhängigen Anwaltskanzlei «Martin Rechtsanwälte GmbH» auf unserem Blog publiziert.