Direktes Forderungsrecht gegenüber Haftpflichtversicherungen

Wenn mich jemand schädigt und der Schädiger zahlt nicht: Kann ich dann direkt von dessen Haftpflicht-Versicherung Geld verlangen? Wir erklären das direkte Forderungsrecht, die Unterschiede im SVG und VVG – und fassen den neuen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts zum direkten Forderungsrecht kurz zusammen.

von mattheiss@m-win.ch, +41 (52) 269 21 11

Was ist das direkte Forderungsrecht – und seit wann gilt es?

Das direkte Forderungsrecht ist aus dem Strassenverkehrsgesetz (SVG) bekannt. Art. 65 SVG erlaubt es geschädigten Personen, ihre Schadenersatzansprüche unmittelbar gegenüber der Versicherung des Schädigers geltend zu machen – ohne den Schädiger selbst belangen zu müssen.

Seit dem 1. Januar 2022 gilt ein direktes Forderungsrecht auch im Versicherungsvertragsgesetz (VVG), konkret in Art. 60 Abs. 1bis VVG. Dieser neue Absatz bedeutet eine erhebliche Verbesserung der Position der geschädigten Person.

Unterschied zwischen dem direkten Forderungsrecht im SVG und VVG

Es gibt aber Unterschiede zwischen dem direkten Forderungsrecht nach dem SVG und demjenigen aus dem VVG. Namentlich folgender ist von praktischer Bedeutung:

Gemäss Art. 65 Abs. 2 SVG können dem Geschädigten keine Einreden aus dem Versicherungsvertrag oder dem Versicherungsvertragsgesetz entgegengehalten werden.

In Art. 60 Abs. 1bis VVG ist hingegen vorgesehen, dass das direkte Forderungsrecht nur «unter Vorbehalt der Einwendungen und Einreden, die […] das Versicherungsunternehmen [dem Geschädigten] aufgrund des Gesetzes oder des Vertrags entgegenhalten kann» Anwendung findet.

Das heisst, dass im Schadensfall nach VVG die Versicherung die Zahlung verweigern, oder kürzen kann, wenn der Versicherte zum Beispiel die Prämien nicht bezahlt hat, vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat oder auch wenn ein Deckungsausschluss im Versicherungsvertrag vorliegt.

Aber ab wann gilt nun das neue, allgemeine direkte Forderungsrecht gemäss VVG?   Dazu gibt es einen neuen Entscheid: Bundesgerichtsurteil 4A_189/2024 vom 27. Januar 2025

Die Klägerin forderte Genugtuung von der Haftpflichtversicherung des behandelnden Arztes, sie stützte sich auf den Art. 60 Abs. 1bis VVG. Der zugrunde liegende Schadenfall ereignete sich im Jahr 2014, die entsprechende Berufsversicherung wurde im Jahr 2013 abgeschlossen.

Gemäss Art. 103a VVG gelten für Verträge, die vor dem Inkrafttreten der Änderung vom 19. Juni 2020 abgeschlossen wurden die Formvorschriften und das Kündigungsrecht nach den Artikeln 35a1 und 35b2 VVG.

Die Klägerin argumentierte, Art. 103a VVG spreche nur von Verträgen, für die eine Übergangsbestimmung geschaffen wurde und enthalte keine Regelung für das Verhältnis zu Dritten. Daraus leitete sie ab, dass die allgemeinen Übergangsbestimmungen nach Art. 2 und 3 SchIT ZGB zur Anwendung kommen und daraus Art. 60 Abs. 1bis VVG ein direktes Forderungsrecht gegenüber der Versicherung ihres Arztes bestehe.

Das Bundesgericht legte Art. 103a VVG aus und kam zum Schluss:

Die Übergangsbestimmung bezieht sich trotz ihres Wortlauts nicht nur auf Verträge, sondern auch auf andere versicherungsvertragliche Bestimmungen wie das direkte Forderungsrecht. Das bedeutet, das vor Inkrafttreten der Änderung vom 19. Juni 2020 abgeschlossene Versicherungsverträge einzig die in Art. 103a VVG aufgeführten Bestimmungen des neuen Rechts anwendbar sind. Eine Rückwirkung weiterer Bestimmungen des neuen Rechts – so insbesondere betreffend das direkte Forderungsrecht nach Art. 60 Abs. 1bis VVG – sei gesetzlich ausgeschlossen.

Wegen der spezialgesetzlichen Übergangsregelung in Art. 103a VVG sind die allgemeinen Regeln zum Übergangsrecht gemäss SchIT ZGB nicht anwendbar.

Fazit

Das neue direkte Forderungsrecht im VVG ist ein bedeutender Fortschritt für Geschädigte – es gilt jedoch nur für Versicherungsverträge, die nach dem 1. Januar 20223 abgeschlossen wurden.

Wer direkt gegen eine Haftpflichtversicherung vorgehen will, muss deshalb stets prüfen, wann der zugrunde liegende Versicherungsvertrag abgeschlossen wurde.

Wenn Sie sich solche Fragen stellen, können Sie gerne auf uns zukommen. Wir kennen die Antworten.

Interessiert mich (Email an sekretariat@m-win.ch; wir melden uns)

Anmerkung: Dieser Beitrag wurde von der unabhängigen Anwaltskanzlei «Martin Rechtsanwälte GmbH» auf unserem Blog publiziert.